Neuroplastizität - Alles Leben ist Lernen

Mit ungefähr 10 Jahren hat unser Gehirn die Grundstruktur ausgeprägt und zahlreiche Forscher betonen, dass ab diesem Zeitpunkt keine wesentlichen Veränderungen möglich sind. Zwar verändert sich das Gehirn anhand von Lernerfahrungen schon noch, aber eigentlich tut sich nichts Wesentliches. Der bereits angesprochene Gerhard Roth belegt dies bei Vorträgen (bspw. Denk- und Handlungsräume der Psychologie, Graz) mit Studien, nach denen 80% der Menschheit ihre grundlegenden Charaktereigenschaften durch das Leben behalten. Seine durchwegs interessante Schlussfolgerung ist, dass Veränderung nicht möglich oder zumindest sehr schwierig ist. Wie schon in Bezug auf seine Auffassung zum freien Willen teile ich seine Auffassung nicht. Ich bezweifle nicht die Studien oder die ausgewiesenen Zahlen, sondern seine einseitige Deutung. Unser Gehirn ist dafür ausgelegt uns an eine Umwelt in die wir hineingeboren werden anzupassen. Das ist unsere evolutionäre Überlebensstrategie. Die wenigsten von uns sind Umweltbedingungen ausgesetzt, die sich so drastisch verändern, dass grundlegende Anpassungsmaßnahmen in unserem Leben nach der „Ersteinrichtung“ notwendig wären. Die meisten von uns kommen mit den einmal gelernten Strategien recht gut bis zu ihrem Lebensende zurecht. Vielleicht könnten sie etwas ändern, doch warum sollten sie? Nicht die 80% jener die ohne maßgebliche Änderung ihres Weltzugangs auskommen wecken mein Interesse, sondern jene 20% die sich in ihrer Lebenszeit dem schwierigen Unterfangen einer wesentlichen Änderung unterziehen tun das. Viele wohl ausgelöst durch dramatische Erlebnisse und Erfahrungen, manche auch durch frei gewählte Modifikationen an ihrem Lebensstil, durch eigene Entscheidungen. Entscheidungen, dass eine bestimmte Art das eigene Leben zu gestalten, sie dem Ziel des Glücks, nicht in jenem Masse näher bringt, das sie erwartet haben. So geben manche hochbezahlte Jobs auf, die sie nicht „erfüllen“. Sie nehmen stundenlange Meditationspraxis in Kauf, revidieren ihr Wertesystem, sprich sie verändern sich. Mit dramatischen Auswirkungen auf ihr Gehirn auch nach der Adoleszenz.

Gerald Hüther von der Universität Göttingen erklärt was dazu nötig ist, wenn er davon erzählt wie ein 85-jähriger Mann am einfachsten Chinesisch lernt. Er pilgert nicht in den Seniorenkurs an einer Volkshochschule sondern verliebt sich in eine knackige 65-jährige Chinesin und geht mit ihr in ihr Dorf um dort zu leben. Lernen benötigt seiner Meinung nach vor allem eines, Begeisterung. Begeisterung ist eine Droge, eine nützliche die unser Körper in Form eines Botenstoffs, des Dopamins ausschüttet und das Dünger für das Wachstum von Synapsen ist, auch im fortgeschrittenen Alter. Vielleicht ist also schon etwas dran am Sprichwort „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans dann nicht mehr ganz so einfach“, oder wie ging das genau?

Jedenfalls verändert sich unser Gehirn je nachdem wie ich es nutze. Neuronale Verschaltungen folgen zwei einfachen Regeln nämlich einerseits dem Nutzungsgesetz: „use ist or loose is“ und andererseits dem Heppschen Gesetz: „Neurons that fire together, wire together“.

Das Nutzungsgesetz äußert sich darin, dass jene Synapsen die feuern gestärkt werden. Im ersten Schritt werden sie dicker und wirkungsvoller, im zweiten bilden sich an den Kontaktstellen sogar neue Synapsen aus. Was direkt im zweiten Gesetz mündet, denn durch diese effizientere Koppelung hat das erste Neuron natürlich mehr Wirkung auf das Folgeneuron und ein entsprechendes Aktionspotential wirkt intensiver. Unser Gehirn verstärkt also jene Bahnen die oft genutzt werden. Wir werden das was wir denken und das was wir tun oder „Übung macht den Meister“. Blöd ist auf der anderen Seite allerdings, dass das was wir nicht tun abgebaut wird, eben use it or loose it. Wir werden im Verlauf unseres Lebens Spezialisten. Vielfalt reduziert sich zugunsten Optimierung des Status Quo.

Menschen bei denen man das besonders gut beobachten und untersuchen kann, sind professionelle Musiker (Bangert & Altenmüller, 2003 S.131ff). Das wurde auch in einer ganzen Reihe von Untersuchungen getan. Schon im Jahr 1995 haben Wissenschaftler rund um Thomas Elbert (Elbert, Pantev, Wienbruch, Rockstroh & Taub, 1995, S. 305ff) mittels Magnetresonanztomographie festgestellt, dass jene Bereiche des sensomotorischen Kortex der für die Finger der linken Hand zuständig sind bei Musikern mit Seiteninstrumenten, (sechs Violinisten, zwei Cellisten und ein Gitarrist) deutlich besser ausgeprägt sind als bei anderen Menschen (Kontrollgruppe). Das Forscherteam stellte sogar fest, dass jene Bereiche mit grauer Hirnsubstanz die für Ring-, Mittel-, Zeige- und kleiner Finger der linken Hand zuständig sind deutlich mehr zulegen als der Bereich der den Daumen repräsentiert. Dieser ist auch bei Saiteninstrumentspielern nicht so intensiv im Einsatz. Musiker müssen um einen hohen Grad von Expertise zu erreichen vor allem eines tun, nämlich üben. Stunden um Stunden müssen sie sehr gezielt und schnell Saiten an bestimmten Stellen, auf bestimmte Weise und in korrekter Reihenfolge niederdrücken. Das hat Auswirkungen auf die Struktur des Gehirns. Gerade bei Musikern erfolgt diese Koordination aber auch in Verbindung mit anderen Musikern. Sie erfordert auch regelmäßige Kontrolle des Ergebnisses durch das Gehör. Es ist also notwendig, den für die Bewegung der Finger der linken Hand zuständigen Hirnareal mit denen des Gehörs zu „sychronisieren“. Zuletzt rührt Musik an unsere Gefühle. Bei professionellen Musikern sogar in zweifacher Weise, unterliegt das Ergebnis ihrer Bemühungen doch dem unerbittlichen Urteil des Publikums. Bangert und Altenmüller zeigen, dass sich die Fähigkeiten von professionellen Musikern auf neurobiologischer Ebene deutlich von denen Normalsterblicher unterscheidet. Sie können Klangfarben unterscheiden, besonders jene der Instrumente die die Künstler selber spielen. Ihr Gehirn reagiert auf konsonante Akkorde schneller als andere und sind kompetenter in der räumlichen Bestimmung von Schallquellen. Im letzten Bereich sind zum Beispiel Dirigenten sogar anderen Musikern überlegen. Profis erleben unbekannte Orchestermusik nicht nur ganzheitlich wie ein ungeübter Hörer, sondern sie erkennen unterschiedliche Instrumente, können die Partituren visualisieren, im Geiste „mitspielen“ (sichtbar durch Aktivität in jenen sensomotorischen Bereichen des Gehirns der für die Bedienung jenes Instruments repräsentativ sind). Trotzdem können sie das Musikstück ganzheitlich „erleben“, wenn wohl auch anders als Nichtmusiker. Sowohl durch Messung der elektrischen Aktivität mittels EEG als auch Ergebnisse von Bildgebenden verfahren, zeigen nachhaltige neurologische Veränderungen in zahlreichen beteiligten Hirnregionen. Natürlich bedarf es bei größeren Veränderungen neuronaler Strukturen entsprechend langdauernder Übung. Doch schon ein halbstündiges Gehörtraining ( Liebert 2001) ist in den Messungen nachweisbar.

Ereignisse hinterlassen Spuren in unserem Gehirn und verändern dessen Funktion und Musik bzw. Musizieren ist wohl eines der probatesten Mittel um das zu bewerkstelligen.

Eine andere Art das Gehirn zu verändern, die neurobiologisch untersucht wurde, ist Taxifahren in London ( Maguire, Woolett und Spiers, 2006, S.1091-1101). Londoner Taxifahrer müssen „Das Wissen“ erwerben. Dieser Prozess dauert durchschnittlich zwei Jahre und beinhaltet Navigationskenntnisse die in einigen Tests nachgewiesen werden müssen. Tausende Sehenswürdigkeiten und andere Plätze müssen angefahren werden können. Die Räumliche Erinnerungsfähigkeit wird extrem strapaziert. Diese ist im Gehirn in der Struktur des Hippocampus lokalisiert. Eleanor Maguire und ihre Kollegen untersuchten das Volumen dieses Gehirnteils im Vergleich zu Menschen die weniger anspruchsvolle Aufgaben für das räumliche Erinnerungsvermögen haben. Tatsächlich stellten sie ein deutlich erhöhtes Volumen im posterioren Hippocampus bei Taxifahrern fest, während ein anderer Teil im anterioren Bereich kleiner war. Das Ausmaß korrelierte mit der Zeit die der Untersuchte als Taxifahrer tätig war. Je länger das Taxi gefahren wurde desto mehr Volumen wies das räumliche Gedächtnis im posterioren Hippocampus auf. Das Gehirn baut also eindeutig jene Bereiche aus, die genutzt werden, sei es jetzt im Bereich des Gehörs, der Sensibilität der Finger oder des räumlichen Gedächtnisses. Werden Gehirnteile nicht verwendet, weil zum Beispiel eine Extremität amputiert werden musste oder funktionale Störungen der Sinnessysteme vorliegen, werden die nun „brachliegenden“ Gehirnbereiche von den benachbarten Regionen „annektiert“. Umgekehrt beeinflusst allerdings die Volumenszunahme in einem Bereich mitunter die Funktionalität in einem anderen. Ein Beispiel dafür liefert die Koordination des Mittelfingers der rechten Hand des Komponisten und Pianisten Robert Schuhmann. Dieser verlor die Kontrolle über diesen Finger und musste eine eigene Konstruktion entwickeln um diesen während des Klavierspiels gestreckt zu halten. Diese Erkrankung wird aktionsinduzierte fokale Dystonie genannt. Volkstümlicher nennt man sie „Musiker“-, „Pianisten“- oder „Geigerkrampf“. Eine mögliche Erklärung ist die Überlappung von Gehirnfeldern. In diesem Fall ist die umfassende Anpassung der Plastizität unseres Gehirns von Nachteil. Wir können annehmen, dass der Prozess der nutzungsinduzierter Modifikation unserer Gehirnstrukturen für die meisten, wenn nicht alle Bereiche unseres Gehirns gilt. Mit der Zunahme an grauer Substanz und zunehmender Vernetzung verbessert sich auch die Funktion des jeweiligen Bereichs. Wenn nun Glück durch Gehirnaktivität repräsentiert wird, können wir also annehmen, dass auch diese „trainierbar“ sind. Mittlerweile liegen dafür auch zahlreiche Belege vor wie wir noch zeigen werden.

In diesem Zusammenhang interessant ist ein Konzept aus der Intelligenzforschung das auf Raymond Catell zurückgeht. Er unterscheidet zwei Intelligenzarten, die fluide und die kristalline Intelligenz. Fluide Intelligenz ist jene Fähigkeit mit Unbekanntem umzugehen, neue Probleme zu lösen, Neues zu kategorisieren und zu integrieren. Intellektuelle Flexibilität sozusagen. Diese nimmt bis zum jungen Erwachsenenalter zu und dann kontinuierlich ab. Demgegenüber speist sich die kristalline Intelligenz aus unserer Übung, unserem Faktenwissen, dem Erprobten und den gut gelernten und schnellen Arten zu reagieren und routiniert an Probleme heranzugehen. Diese nimmt kontinuierlich bis ins höhere Alter zu um sich erst dann mit einem allgemeinen Abbau des Gehirns zu verringern. Spannenderweise liegt das Maximum der fluiden Intelligenz statistisch ungefähr bei jenem Alter bei dem man in unserer Kultur aufhört sich mit Neuem zu beschäftigen, oft gezwungen durch ein „Bildungssystem“. Wenn wir Lehre, Schule oder Studium endlich hinter uns haben und fit gemacht wurden um ein produktives Mitglied unserer arbeitsteiligen Welt zu sein, unsere Pflicht für Mitmenschen und Vaterland als braver Steuerzahler erfüllen und es uns mehr oder weniger im Alltag gemütlich machen reduziert sich im selben Maß die fluide Intelligenz. Wieder das Nutzungsgesetz „Use it or loose it“. Unser Gehirn jedenfalls verliert keineswegs die Fähigkeit Neues zu speichern und zu integrieren.
Für unsere Betrachtung ist dies elementar. Es ist aus diesem Aspekt nie zu spät sein Leben neu auszurichten oder wie es die amerikanische Familientherapeutin Virginia Satir formulierte: "Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben.", oder eine glückliche Gegenwart. Alles was es dazu braucht sind Erlebnisse die unser Gehirn „düngen“, also Stoffe ausschütten die unter anderem die Ausprägung neuer Synapsen fördern. Denn Glück ist im Wesentlichen da um uns zu motivieren und zu belohnen. Glück ist Bewegung.

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